Donnerstag, 25. Januar 2018

Liebe Linde

Noch stehst du.


So wie du Jahrzehnte da gestanden bist. Stolz. Du hast das Quartier geprägt. Du hast dich bemerkbar gemacht: Im späten Frühling mit dem Duft deiner Blüten, im Sommer mit deiner Blätterpracht und edlen Erscheinung, im Herbst mit deinen Samen.


Wie alt du wohl bist. Bei einem Meter Stammdurchmesser spricht man von 70 Jahren. Und die hast du mit Sicherheit.
Du rufst viele Erinnerungen in mir wach. Zum Beispiel daran, dass Familienmitglieder von dir im Leben der Menschen eine bedeutende Rolle spielten und heute noch spielen. Gerichtslinden sind spätestens seit den germanischen Volksstämmen ein Begriff, oder die Linde als Dorfzentrum, als Ort der Geselligkeit und der Gastlichkeit.
Dein Holz ist in den Händen der Schnitzer wertvolles Schaffensmaterial für Kunst und Kultur. Weichheit das ist auch dein Wesen. aber auch Hartnäckigkeit und sanftes Sich-Durch-Setzen. Ich denke da zum Beispiel an deine Fähigkeit von Zeit zu Zeit frische Innenwurzeln im hohlen Innern abzusenken, um dich damit wieder zu erneuern – und alt zu werden. Es gibt Linden, die sind 1000 Jahre alt. Und das trotz des weichen Holzes, das keine Ecken und Kanten kennt.
 Du gibst viel Wärme und Ruhe. Wer sich unkonzentriert und zerrissen fühlt setzt sich gerne unter deine Krone an den Stamm. Und erfährt die Stille, die Harmonie, die du in sein Inneres übertragen kannst.  Das frische Grün deiner Blätter suggeriert: „Ich bin die grüne Kraft“ und das Gelb der Duftenden Blüten meint: „Alles ist vergänglich und hat seine Zeit. Pack die Stunde, ehe es zu spät ist…“
Ja, du erinnerst mich auch daran, dass deine Hilfe in unserer Familie immer dann gefragt war, wenn jemand krank war, Fieber hatte, Husten oder Schmerzen. Aber auch für „süsse Träume“ haben wir den Tee aus deinen Blüten geschätzt.
Dein Blatt war uns Symbol für Herzlichkeit, Verständnis, Liebe, Wärme und Mitgefühl. Unsere Vorfahren haben dich gerne in ihrem Wappen getragen. 


Und nun sollst du deinen Platz räumen. Deine Gastfamilie hat Angst vor fallenden Ästen. Denn du bist gross geworden und dein herabfallendes Holz könnte jemanden erschlagen oder ihm empfindlich weh tun. Ich hoffe, sie pflanzen aus deinen Zweigen wieder einen neuen, kleineren Lindenbaum, der sie an dich erinnern wird und der sie schon bald wieder deine grossartigen Eigenschaften schätzen lässt.


Sei ihnen nicht böse. Irgendwie bist du ja unsterblich.  Danke für alles.

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